Wendezeit

"Unseren Ketchup haben uns die Wessis auch weggenommen."

Direkt nach der Maueröffnung und dann nach der Währungsunion (1.7.1990) geraten vor allem die Kaufinteressen der Ostdeutschen in die Schlagzeilen der deutschen Presse. Neben Westautos, Elektronik, Fernseh- und Videoanlagen, Baumaterial und Textilien machen die Lebensmittel einen nicht unbedeutenden Konsumanteil aus. Zu beobachten ist zunächst ein Stürzen auf Bananen und auf Südfrüchte allgemein, auch auf Milchprodukte ("Joghurtwelle") und Schokoladenartikel, auf Westprodukte insgesamt. Vor Aldi bilden sich die schon legendären Käuferschlangen, die Produkte werden kistenweise herausgetragen. Was steckt dahinter? Wie kommt es zu solch auffälligen Verhaltensweisen und zur anschließenden Klischeebildung vom "konsumwütigen Ossi"?

Karikatur: Klaus Stuttmann in "Alles Banane", Rotbuch Verlag, Berlin 1990

Apropos Bananen

"Kurz nach der Wende gab es diesen Run auf Bananen oder Orangen: Das hängt eigentlich auch damit zusammen ... na ja, einerseits, daß die das irgendwie nicht hatten, und andererseits, daß das was Besonderes war, und wer das dann hatte, der war halt clever, oder der war mehr als die anderen." (Judith, 25 Jahre)

Der besondere Reiz bestimmter Produkte kann in deren symbolischer Bedeutung gesehen werden: Entweder handelt es sich um DDR-Mangelprodukte mit hohem Prestigewert wie Bananen, Orangen und Joghurt, oder es sind - wie West-Kaffee und -Schokolade - geschmacklich bessere Waren als die zudem überteuerten und nicht allen zugänglichen östlichen. Dieser Zugriff auf Westprodukte war vorher meist nur vermittelt möglich. Nun ist das Grelle, Bunte des West(werbe-)fernsehen und der Intershops - eine Art Botschaft ohne Substanz - plötzlich allen zugänglich. Der "Run" auf Westprodukte kann also auch als eine Art Einverleibung jener bunten, legendären Welt der Coca-Cola und Jeans verstanden werden, die zu DDR-Zeiten nur für Besitzer von Westwährung erreichbar war.

"Das war das Grelle, das Aufleuchtende. Das haben doch die Leute schon im Intershop gesehen. Einige konnten da einkaufen gehen, und andere haben das nur durch die Schaufenster gesehen. Und immer dieses Grelle, Bunte. Dieses Neue ausprobieren. (...) Obwohl das ja völlig sinnlos ist, davon auszugehen, aber man schätzt ja ein Produkt immer erst vom äußeren Zustand her ein." (Leon, 24 Jahre) Daß ausgerechnet die Banane zu einer Art nationalem Symbol für die Wiedervereinigung wird, läßt sich wohl darauf zurückführen, daß viele Interessengruppen sie unterschiedlich benutzen können. Auf der einen Seite bedeutet der Bananenkauf die demonstrative Teilhabe an den bislang vorenthaltenen westlichen Konsummöglichkeiten - zumal die gelbe Frucht seitens der BRD seit der Aufbauzeit propagandistisch immer wieder als Symbol für das bessere Wirtschaftssystem eingesetzt wurde. Auf der anderen Seite ist der unbegrenzte Südfrüchteimport schon längst und nun erst recht Ziel einer allgemeinen Kulturkritik: Trotz vorgeblich humaner Werte wird die Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt geduldet, ja sogar vorangetrieben ("Bananenrepublik").

Apropos Ketchup

Nach der Währungsunion sind die Ostprodukte zunächst aus den Ladenketten verschwunden und werden nur hier und da auf Märkten und in kleineren Läden als billige Restposten verkauft. Im Frühjahr/Sommer 1991 wird dann in mehreren Aktionen versucht, sie insgesamt wieder mehr unter die Leute zu bringen, wie zum Beispiel in der Aktion "ICH KAUFE OST" unter der Schirmherrschaft von Manfred Stolpe. Tatsächlich erzielen Markenartikel aus den neuen Ländern bald zunehmende Nachfrage. Zum einen sind sie preislich oft noch günstiger als gleichwertige Westware, zum anderen verbreitet sich die Einsicht, daß man nicht "so 'n ganzes Land nur zum Handelsgebiet oder Dienstleistungsgebiet machen kann." (Frau D.) "Ich kaufe Ostprodukte, weil wir unter Honecker nur verbrauchen konnten, was wir vorher produziert hatten, jetzt aber können wir nur noch produzieren, was wir verbrauchen." (P. Ensikat, Ost-Satiriker)

Hinzu kommt eine oft geäußerte Enttäuschung über Westprodukte, zusammen mit einer Aufwertung der "alten" Produkte: "Neue Qualität, modernes Design, gekonnte Präsentation und günstige Preise versetzten viele Besucher der Ostprodukte-Messe im Juli 1991 fast in einen Kaufrausch." (Berliner Zeitung) Danach wird der Kauf von Ostprodukten bei steigenden Preisen zunehmend zu einem bewußten Akt, zu einer Abgrenzung vom Westen, einem Bekenntnis zum Osten. Einzelne Produkte werden von vielen als geschmacklich den Westwaren überlegen bezeichnet, vor allem Produkte, die auf eigenen Ost-Gewürzmischungen basieren: Ketchup, Senf, CLUB-Cola, Backwaren, Wurstartikel, Bier. So ist die Lebensmittelindustrie als Teil der Verbrauchsgüterindustrie derjenige Sektor, der mit den geringsten Produktionseinschränkungen zu kämpfen hat - Vorreiter beim "Aufschwung Ost"?

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