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Am roten Faden
7. Mai 2006
Heinrich-Heine-Haus Lüneburg
Einführung Ausstellung Karin Marquardt: „Am roten Faden“
„Am roten Faden“ – so lautet der Titel der Ausstellung von Karin Marquardt, zu der wir uns heute hier versammelt haben. Er ist bewusst gewählt und assoziiert mehreres. Gemeint sein könnte ganz visuell die Neigung der Künstlerin zu klaren, strahlenden Farben – auch rot - und zu linearen Strukturen. Karin Marquardt hat ihn jedoch ausgewählt, um ihrem Wunsch, konstant bei ihrem künstlerischen Thema bleiben zu können, Kontinuität auch im Wandel zu finden und den „roten Faden“ in ihrer Kunst nicht zu verlieren, Ausdruck zu verleihen.
Der Titel „Am roten Faden“ assoziiert aber auch etwas, was Karin Marquardt vielleicht auch nur unbewusst – Freud hatte gestern Geburtstag! – damit meinen könnte: das „Am seidenen Faden-Hängen“: Ist es nicht immer ein großes Wagnis für einen Menschen, sich der freien Kunst zu verschreiben und sein Leben mit zahlreichen Unwägbarkeiten bestreiten zu müssen? Umso mehr hat mich, als ich Karin Marquardt kennen lernte, beeindruckt, mit welcher Ausdauer und Überzeugung sie ihren künstlerischen Weg beschritten hat und es geschafft hat, den seidenen immer wieder in einen roten Faden zu verwandeln. Allen Brüchen, Unterbrechungen und Neuanfängen zum Trotz.
Die meisten von Ihnen kennen Karin Marquardt und ihr künstlerisches Werk vermutlich schon viel länger als ich und wissen, mit welcher Konsequenz sie es aufgebaut hat, ohne sich um die Erwartungen eines schnelllebigen und launischen Kunstmarktes zu kümmern. Ihr Studium zur Illustratorin an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg in den 1980er Jahren ermöglichte es ihr, ihre Leidenschaft und ihre Begabung für das Zeichnerische auszubilden. Doch zur Auftragskünstlerin fühlte sie sich nicht berufen, suchte schon während des Studiums Wege, sich der freien Kunst zu widmen. Ihre erste Schaffenszeit war von abstrakt-expressionistischen Arbeiten geprägt, die geheimnisvolle Zeichen und Schriftzüge neben dreidimensionalen Materialien integrierte und ihr 1985 den Kulturförderpreis in ihrem Heimatkreises Lüneburg einbrachte. Ende der 80er Jahre waren es tanzende Frauen, in sicherem Gestus und leuchtenden Farben aufs Papier gebracht, die Ausstellungsrezensenten dazu verführten, von der Darstellung „afrikanischer Urmütter“ zu sprechen. Sie waren impulsiv und voller Leben, ebenso wie ihre kalligraphisch anmutenden „Blindzeichnungen“ in Tusche. Anfang der 1990er Jahre ging sie wieder auf deutliche Distanz zur gegenständlichen Malerei, reduzierte die Formen, und ließ den Mensch zunehmend aus dem Bild verschwinden. Auf emblematische Form reduziert sind es nun Gefäße – Schalen, Teller oder ähnliches -, die das Bild beherrschen, bis auch diese immer zeichenhafter werden. 1994 wirft sie, wie sie damals sagte, „den Bedeutungsbalast“ endgültig ab und widmet sich von nun an ganz dem Rhythmus von Fläche und Farbe. Sie wird zur „Konstruktivistin“, wie sie sich seither bezeichnet.
Nur selten hört man derart klare Positionierungen von Künstlern der Gegenwart. In der Regel unterliegen sie dem Anspruch, originär und innovativ jenseits existierender Strömungen und Moden zu arbeiten, nicht in vorgegebene Schubladen zu passen. Karin Marquardts Aussage machte mich neugierig: auf welche Tradition bezieht sie sich? Was sind ihre Motive der künstlerischen Tätigkeit? Wer steckt hinter den zunächst sehr kühl und distanziert wirkenden, akkurat ausgeführten Acrylgemälden in leuchtenden Farben? Unsere folgenden Gespräche machten mir deutlich, dass es tatsächlich eine geistige und praktische Nähe zu den Begründern der abstrakt-konstruktiven Malerei gibt, ohne jedoch deren Ambitionen und Ansätze zu wiederholen. Daher sei mir hier ein kurzer Blick zurück auf eine längst vergangene Zeit erlaubt, nämlich als Künstler vor hundert Jahren Bilder schufen, die so radikal anders waren als alles, was davor erschaffen wurde: Bilder ohne erkennbaren Gegenstand.
Kunst entwickelt sich nicht autonom, sondern stets in Auseinandersetzung mit ihrer Zeit: So sieht man auch innerhalb der Kunstgeschichte mittlerweile deutlicher den Entstehungszusammenhang, in dem der künstlerischen Avantgarde in Europa der Vorstoß zur ungegenständlichen Malerei auf breiterer Ebene gelungen ist. Die Abstraktion hatte sich schon im 19. Jahrhundert angebahnt, als bereits eine wichtige Funktion von Kunst, nämlich die naturgetreue Abbildung der Wirklichkeit der neuen Technik Fotografie überlassen wurde. Maler wie Cezanne konnten sich zunehmend auf Farben- und Formensehen jenseits der Inhalte konzentrieren. Er bedeutete damals: „Ein Bild stellt zunächst nichts dar, soll zunächst nichts darstellen als Farben.“ Dies machte das Sichtbarwerden der wesentlichen Elemente einer Komposition wie Spannung, Kollision, Harmonie und Bewegung möglich, wodurch die emotionale Wirkung beim Betrachter aktiviert und gesteigert werden sollte – wie in der Musik auch. Mit der Loslösung vom abzubildenden Gegenstand wurde ein neuer, „konkreter“ Gegenstand erschaffen: das Bild. Von daher bezeichnet man heute oft ungegenständliche Kunst, die von elementaren Formen und Farben ausgeht, auf sich selbst bezogen ist und nichts mehr darstellen will, als Konkrete Kunst.
Maßgeblich für diesen revolutionären Ansatz war ein Gefühl der Entfremdung, das sich um die Jahrhundertwende in Europa unter Intellektuellen und Künstlern bemerkbar machte. Dies führte auf der einen Seite zu einer starken Sehnsucht nach der „Ursprünglichkeit“ gesellschaftlichen Zusammenlebens und schlug sich innerhalb der Kunst in kulturkritischen und von außereuropäischen Kulturen inspirierten Richtungen wie Kubismus, Futurismus, Surrealismus und Expressionismus nieder. Mehr im Einklang mit der eigenen Kultur und auf der Suche nach einem Weg aus der Zerfallstendenz waren die Künstler, die die geometrische Abstraktion vorantrieben. Sie zielten auf eine Aufhebung der wissenschaftlichen Trennung von physischer Welt und unmaterieller Energie und wollten die Kräfte der Moderne zu einer harmonischen Synthese verschmelzen. Unter der Führung der Ästhetik sollte die vormals religiös begründete Einheit von Lebens- und Arbeitswelt erneuert werden.
In Moskau, wo 1921, also vor 85 Jahren, die „Arbeitsgruppe der Konstruktivisten“ gegründet wurde, strebte man an, die Kunst aus ihrer sozialen Isolation heraus zu heben, sie zum Mittel der Volksbildung zu machen und ganz in den Dienst der russischen Revolution zu stellen. Über El Lissitzki, einen Protagonisten des Konstruktivismus, kamen diese Ideen einer geometrisch abstrakten Kunst mit gesellschaftsverändernder Wirkung nach Westeuropa und verbanden sich mit den Ansätzen, die sich dort bereits vor dem 2. Weltkrieg entwickelt hatten. Sie kennen die wichtigsten Namen: Kandinsky, Mondrian, Malewitsch und Klee. Auch sie waren von den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft erschüttert, von Atomphysik und Relativitätstheorie, die die alten Vorstellungen von Materie und Wirklichkeit außer Kraft setzten. Dennoch bestand dort ein ganz anderer geistig-politischer Hintergrund als in Russland. Sie waren teilweise sehr empfänglich für spirituelle Richtungen und daher mehr an der Darstellung des „Übersinnlichen“, Geistigen, „Universalen“ interessiert als an konkreten gesellschaftlichen Veränderungen. Dagegen war Paul Klee, der in den 1920er Jahren am Bauhaus tätig war – das zur Drehscheibe des Konstruktivismus werden sollte -, eher naturwissenschaftlich orientiert. Er suchte die Kunst zu verwissenschaftlichen durch die Verwendung naturwissenschaftlicher Methoden, nämlich einer Ordnung und Systematisierung der Bildmittel: der Grundformen, Farbwerte und Kompositionsverfahren. Dies lieferte ihm den Anspruch der Kunst auf überindividuelle Gültigkeit. Die Reduktion der Malerei auf die Elemente Punkt, Linie, Fläche machte konstruktivistische Kunst in seinen Augen zum Gleichnis der Schöpfung Gottes – ein hoher Anspruch!
Aber und Leider: Abstrakte Kunst wird oft abgelehnt als inhaltslos und sinnlos, da sie keine gegenständliche Wirklichkeit mehr thematisiert. Sie fordert den Betrachter heraus, da es keine Gesetze und Normen mehr für die Beurteilung der Kunst gibt. Er muss sich selbst beteiligen, womit er oft überfordert scheint. Verständnis und Imaginationsfähigkeit stellen hier größte Ansprüche. Dennoch gibt es keine zweite Grundströmung innerhalb der modernen Kunst, die so beharrlich lebendig bleibt und in so viele Schaffens- und Lebensbereiche ausstrahlt wie die konstruktive Kunst – so zumindest meint der Kunsthistoriker Willi Rotzler. Er vertritt die Ansicht, dass es das Ziel und die Aufgabe konstruktivistischer Künstler sei, Grundstrukturen unseren Lebens und unserer Zeit zu erkennen und erkennbar zu machen, auch wenn deren Konzepte heute sehr unterschiedlich ausfallen: formal-ästhetisch oder weltanschaulich oder erkenntnistheoretisch.
Doch zurück zum roten Faden meiner Rede: der Kunst von Karin Marquardt. Als sie sich Mitte der 90er Jahre dem Konstruktivismus verschrieb, begann eine äußerst kreative Schaffenszeit. Wie sie beispielhaft in diesem Raum sehen können, entstanden neben Objekten und Collagen aus Papierfaltungen vor allem rational komponierte Acrylbilder und minimalistische Tuschzeichnungen. Die hier ausgestellten Holzkästen etwa – es sind die alten Imkerkästen ihres Großvaters – beherbergen mit schwarzen Balken aus Japantusche grob bemalte Buchseiten. Die Kästen und die Bücher wurden damit ihrer eigentlichen Funktion, nämlich Bienen zu züchten und Texte zur Lektüre zu bewahren, enthoben und zu einem rein sinnlich-haptischem Objekt transformiert. Die gelb-grauen Acrylbilder, die Sie hier sehen, sind ebenfalls frei von Bedeutung, sind lediglich dem Miteinander von Fläche und Farbe verpflichtet und erzeugen allein durch deren bewusste und konstruierte Anordnung eine Illusion von Räumlichkeit, ja erinnern gar an die Buchobjekte. War es ein totaler Neuanfang im Werk von Karin Marquardt? So groß wie der Bruch scheint, ist er nicht: nach wie vor sind es Prinzipien des Tanzes und der Musik, die ihre Arbeiten bestimmen – in den Rhythmen und Strukturen ihrer geometrisch abstrakten Bilder steckt sehr viel Dynamik und Bewegung, wenn auch kontrolliert und bewusst komponiert.
Dennoch ist in diesen Arbeiten von Karin Marquardt nun jeder persönlich-individuelle Zug verschwunden. In der Konzentration auf einfache Strukturen sucht sie - wie die Pioniere der Moderne - die Allgemeingültigkeit, die Überwindung des Egos, und doch sich selbst, ohne sich Preis zu geben. Hinter all dem steckt ein großes Bedürfnis, das Chaos der Welt zu ordnen, eine kosmische Ruhe zu finden und an den Betrachter weiterzugeben. Meditation, Selbstaufgabe und Zentrierung von Energie war und ist bis heute ein essentielles Motiv vieler konstruktiv arbeitender Künstler. Dazu ist nicht nur Selbstbeherrschung und systematisches Arbeiten, sondern auch viel Kreativität und Spontanität notwendig. Mit spielerischer Neugier entwickelt Karin Marquardt ihre Ideen, wählt mit Intuition aus, probiert, rechnet, verwirft und präzisiert – und fühlt sich gefordert. Die Realisation der Arbeiten indes ist eine Prüfung, eine - wie sie sagt – „positive Qual“, denn sie verlangt sich selbst das Höchste ab, was ein Mensch leisten kann: technische Perfektion. Ohne Hilfsmittel von Zeichengerät und Computer setzt sie ihre Ideen um, legt mit ruhiger Hand und manchmal mit Schablonen Balken, Linien und Bögen an. Sie wird dabei selbst zum Zuschauer, der beobachtet, was auf dem Blatt geschieht.
Lohn ihrer Mühen um eine Neuentwicklung in ihrer Kunst war der Kulturpreis des Landkreises Lüneburg, der ihr 2001 verliehen wurde. Diese Auszeichnung bestätigte sie in ihrem Weg, verhinderte jedoch nicht eine Schaffenspause, den Verlust des „roten Fadens“ für gut 2 bis 3 Jahre. Nach der Entwicklung einer eigenen Bildsprache – der Verwendung und systematischen Anordnung von Farbbalken, Sinuskurven und linearen Strahlenkränzen – schien es 2002 nicht mehr weiter zu gehen. Doch im hinteren Raum werden Sie sehen, dass sie den „roten Faden“ wieder gefunden hat: über stilisierte Blumen- und Landschaftsbilder, die aus einer durchgezogenen Linie aufgebaut sind – sie erinnern mich an Zeichnungen mit der Computer-Maus -, fand sie zurück zur geometrischen Abstraktion und ihrem Thema, dem experimentellen Spiel mit geometrischen Formen, die nach einer selbstbestimmten Logik angeordnet werden. Wie Sie auf der Einladungskarte und im hinteren Raum sehen werden, ist es vor allem die Parabel, die ihr derzeit neue kreative Aufgaben stellt. Dieser Bogen, den Sie sicher noch aus dem Mathematikunterricht kennen, ist die grafische Darstellung zur Beschreibung einer quadratischen Funktion der Form: Funktion von x wird zugeordnet ax 2 + bx + c. Keine Angst, ich werde Sie nun nicht auffordern, damit zu rechnen. Mich hat nur bei den Recherchen dazu überrascht, wie alt dieses Kurve bereits ist, und wo sie sich wieder mit der Arbeit Karin Marquardts trifft. Tatsächlich hat bereits im 17. Jahrhundert Galileo Galilei die Parabel erstmals aus Beobachtungen zum Fall eines Steines systematisch und experimentell untersucht und in mathematische Form gebracht: er beobachtete nämlich zweierlei: lässt man einen Stein aus einer bestimmten Höhe fallen und misst die zurückgelegte Strecke in Abhängigkeit zu der Zeit, die der Stein dafür gebraucht hat und überträgt die Daten in ein Gitternetz, erhält man die Form einer Parabel, die ausdrückt, dass der Stein im Fall immer schneller wird. Außerdem entdeckte Galilei, dass auch ein in hohem Bogen weggeworfener Stein - idealerweise in luftleerem Raum oder auf dem Mond – eine Bahn beschreibt, die einer nach unten geöffnete Parabel gleicht. In dieser Kurve steckt also sehr viel Bewegung, wenn auch in Formeln verschlüsselt und in abstrakte Form gebracht. Wie bei Karin Marquardts Bildern. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
© Charlotte Brinkmann
© Bild Karin Marquardt: o.T., Acryl auf Leinwand, 2001
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